Am 8. November 2025 fand im Kultursaal des LVR-Klinikums Düsseldorf das Symposium „Zum sozialen Nutzen von Musik für Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine am Beispiel der traditionellen ukrainischen Musik“ statt. Veranstaltet wurde es vom Landesmusikrat NRW in Kooperation mit der Initiative „Deutsch-Ukrainische Wirkung (DUWir)“ und dem LVR-Klinikum Düsseldorf, gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW. Ziel war es, die Rolle der ukrainischen Volksmusik in Krisenzeiten zu beleuchten und ihre Bedeutung für Identität, Heilung und Gemeinschaft von Geflüchteten aufzuzeigen.
Nach einem musikalischen Auftakt durch das Frauen-Vokalensemble Ralets mit einem Hochzeitslied aus der Region Donezk begrüßte Christine Siegert, Präsidentin des Landesmusikrats NRW, die zahlreichen Gäste. Sie betonte die Bedeutung der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine sowie das Engagement des Landesmusikrats für den Erhalt ukrainischer Musikkultur. Ihr Dank galt der Unterstützung durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW und dem Helferteam von Landesmusikrat und LVR Klinikum um Organisatorin Sandra Hoch.
Der stellvertretende Generalkonsul der Ukraine, Oleh Yevdokimov, dankte für das Engagement und unterstrich den Wert kultureller Projekte als Hoffnungsträger in Kriegszeiten. In und außerhalb der Ukraine brauchen die Menschen Hoffnung, um diesen Krieg durchzuhalten, und das Beleben der ukrainischen Kultur könne diese Hoffnung geben.
Dr. Michael Reitemeyer vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW hob hervor, dass Musik ein zentrales Medium für Verständigung und psychische Stabilität sei. Er schilderte, wie sehr die kulturellen Beziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und der Ukraine in den vergangenen Jahren gewachsen sind und wie sehr er sich persönlich betroffen fühle, wenn in den Nachrichten wieder von russischen Angriffen auf Städte berichtet wird, die ihm vertraut sind. In der Nacht vor dem Symposium hatten die russische Armee u.a. die Region Cherson angegriffen und zwei Zivilisten getötet, weitere verletzt.
Olesya Cherepynska von DUWir schilderte eindrücklich, wie ukrainische Sprache und Kultur in besetzten Gebieten unterdrückt werden. Jede russische Okkupation beginne mit der Tilgung der ukrainischen Kultur. Umso wichtiger ist, diese kulturellen Schätze im Exil lebendig zu halten. So trug dann das Ensemble Ralets eine Auswahl an Volksliedern aus verschiedenen Regionen der Ukraine vor, darunter lyrische und humorvolle Stücke, Soldaten- und Hochzeitslieder. Die Darbietung in traditionellen Trachten beeindruckte durch kehlige, ausdrucksstarke Stimmen und emotionale Tiefe.
Das erste Diskussionspanel, moderiert von Prof. Frank Henn (Hochschule für Musik und Tanz Köln), stand im Zeichen der Frage, welche Rolle Musik für Menschen spielt, die durch Krieg und Flucht entwurzelt wurden.
An der Runde nahmen teil:
- Olesya Cherepynska (Initiative DUWir),
- Gaiane Budzhelida (Teilnehmerin des Projekts Wortklang),
- Jasper van den Hövel (Musikpädagoge, Autor einer Bachelorarbeit zur musikalischen Integration Geflüchteter)
- sowie das ukrainische Musikerduo Nadiya Pakosh und Oleh Kolos vom Ensemble Religimuz.
Im Zentrum standen Erfahrungen mit musikalischer Arbeit in Geflüchteten- und Integrationskontexten. Jasper van den Hövel stellte seine Untersuchung vor, in der er analysierte, wie gemeinsames Musizieren Zugehörigkeit schaffen kann. Musik ermögliche eine Kommunikation jenseits sprachlicher Barrieren und könne soziale Brücken zwischen Einheimischen und Neuankommenden bauen.
Gaiane Budzhelida schilderte aus persönlicher Perspektive, wie sie in Düsseldorf durch ein Sprachlernprojekt namens Wortklang erstmals wieder ein Gefühl von Sicherheit und sozialer Anbindung gefunden habe. „Musik war für mich fast so wichtig wie das Erlernen der Sprache“, sagte sie. Sie ermögliche, Emotionen zu teilen, wenn Worte noch fehlen.
Olesya Cherepynska betonte, dass Musik zwei zentrale Funktionen habe: Sie stärke die psychische Stabilität der Geflüchteten und ermögliche zugleich das Bewahren kultureller Identität. In den von Russland besetzten Gebieten, so erinnerte sie, seien viele traditionelle Lieder verboten oder verschwunden – in der Diaspora aber lebten sie weiter. „Wenn wir singen, bewahren wir nicht nur unsere Kultur, sondern auch uns selbst.“
Das Duo Pakosh/Kolos berichtete von seiner Reihe „Lieder aus der Ukraine“, mit der es seit der Flucht aus Heek dutzende Workshops und Auftritte in NRW gestaltet hat. Die Teilnehmenden – Deutsche wie Ukrainer – singen dabei gemeinsam Volkslieder und tauschen ihre Geschichten aus. Für die Musikerinnen und Musiker sei das „eine Form von Therapie, Begegnung und Solidarität zugleich“. Frank Henn fasste zusammen, dass Musik für Geflüchtete weit mehr sei als Freizeitgestaltung: Sie wirke als soziales Bindemittel, das Identität, Erinnerung und emotionale Stabilität fördere. In der gemeinsamen musikalischen Praxis entstehe eine neue Art von Heimat – eine „Heimat im Klang“.
Das Trio Ukraina (Iryna Dusheiko, Yana Andrushchenko und Yulia Parnes) brachte ein Programm zwischen traditioneller und arrangierter Volksmusik, mit Werken von Volodymyr Ivasyuk, Anatoliy Kos-Anatolskiy und Mykola Leontovych. Das Publikum wurde auf eine emotionale Reise zwischen Heimatverbundenheit, Sehnsucht und Lebensfreude mitgenommen.
Panel „Archaisch, episch oder lyrisch – Traditionelle Musik aus der Ukraine“
Das zweite Panel, moderiert von André Erlen, stand im Zeichen der kulturhistorischen Tiefe und Vielfalt ukrainischer Volksmusik. Diskutiert wurde nicht nur, was traditionelle Lieder erzählen, sondern auch, wie sie entstanden, überliefert und transformiert wurden – und welche Bedeutung sie heute haben.
Auf dem Podium saßen Mariana Sadovska (Sängerin, Komponistin und Leiterin des Deutsch-Ukrainischen Chors), Yulia Kulinenko (Ethnologin und Sängerin), Irena Dusheiko (Chorleiterin, vor dem Krieg 23 Jahre in Kiew tätig) sowie Yaromyr Bozhenko (Pianist und Arrangeur).
André Erlen eröffnete das Gespräch mit der Frage, ob sich die traditionelle Musik der Ukraine überhaupt in westliche Gattungsbegriffe wie „archaisch“, „episch“ oder „lyrisch“ einordnen lasse. Darauf antwortete Mariana Sadovska, dass Volkslieder der Ukraine nicht nur poetische Formen, sondern Ausdruck des Lebenszyklus selbst seien.“ Sie erinnerte an ihre Kindheit in der Sowjetunion, wo die Musik oft stark ideologisch gefärbt und künstlerisch verflacht gewesen sei. Erst später, als sie sich den ursprünglichen Volksliedern zuwandte, habe sie „eine Sprache gefunden, die wirklich zu meiner Seele sprach“. Sadovska erzählte von Expeditionen, die sie gemeinsam mit Erlen in ukrainische Dörfer unternommen hatte, um alte Lieder aufzuzeichnen. Dabei sei aufgefallen, dass selbst Hochzeitslieder oft melancholisch klingen – weil sie Übergänge, Abschiede und Lebensumbrüche thematisieren. Viele Lieder begleiten Schwellenmomente: das Erwachsenwerden, die Trennung, das Mutterwerden, das Gehen in den Krieg.
Yulia Kulinenko berichtete von ihren Forschungen zu den Liedern der Regionen Donezk und Donbas, deren musikalische Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Die dortigen Lieder seien meist polyphon, oft mit kräftigen, durchdringenden Stimmen gesungen – ein Klang, der die Weite der Landschaft und das gemeinschaftliche Leben der Dörfer widerspiegele. Mit der Industrialisierung und den Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert sei diese Volkskultur jedoch zunehmend zerfallen. „Heute“, so Kulinenko, „erleben wir den Versuch, diese Stimmen wiederzufinden – auch als Teil unserer Identität.“ Irena Dusheiko schilderte ihre Arbeit mit großen Chören in Kiew, die ausschließlich ukrainische Musik pflegten. Diese Chorkultur, sagte sie, habe über Jahrzehnte eine Gegenwelt zur russifizierten Kulturlandschaft gebildet. „Wir haben nie aufgehört, ukrainische Musik zu singen – auch wenn man uns das Leben schwer machte.“
Yaromyr Bozhenko ergänzte aus musikwissenschaftlicher Sicht: Die Bearbeitung und Neuinterpretation traditioneller Lieder sei keine Entfremdung, sondern eine Fortsetzung der mündlichen Überlieferung. „Das Erzählen von Geschichten ging in das Singen über – und das Singen ging in unzählige Varianten über.“ Erlen knüpfte daran an und erinnerte daran, dass selbst im 19. und 20. Jahrhundert viele Komponisten Gedichte und Stücke im Stil der Volksmusik schrieben, die dann vom Volk „zurückerobert“ wurden – als Teil der eigenen Tradition.
Sadovska lenkte den Blick auf die zentrale Rolle des Freiheitsmotivs in der ukrainischen Liedtradition: „Unsere Lieder sind Archive des Widerstands. Schon im 19. Jahrhundert besangen sie Freiheit und Selbstbestimmung – Themen, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben.“ Das Panel schloss mit einer eindringlichen Botschaft: Die ukrainische Volksmusik ist kein museales Erbe, sondern eine lebendige Kulturpraxis, die Identität stiftet, Erinnerung bewahrt und gesellschaftliche Transformation begleitet.
Das Ensemble Religimuz unter Leitung von Nadiya Pakosh verband geistliche und traditionelle Gesänge, darunter ein Psalm aus dem 19. Jahrhundert, ein Weihnachtslied und die Eigenkomposition „Umsichtige Räuber“. Die Werke reflektierten Leid und Hoffnung gleichermaßen und bildeten eine Brücke zwischen spiritueller und weltlicher Tradition.
Den emotionalen Höhepunkt bildete das Konzert des RAI-Chors unter der Leitung von Mariana Sadovska. Der Chor sang Lieder aus verschiedenen Regionen der Ukraine, darunter „Drevo“ („Baum“) aus Poltawa, das den anwesenden verwundeten ukrainischen Soldaten gewidmet wurde. Das Publikum ehrte die Soldaten stehend, bevor alle gemeinsam die Lieder „Oj u luzi chervona kalyna“ und „Chernova Ruta“ sangen – begleitet von Yaromyr Bozhenko am Flügel.
Das Symposium zeigte, wie stark Musik in Krisenzeiten wirken kann – als kulturelles Gedächtnis, als emotionale Brücke zwischen Menschen und als Mittel zur Heilung. Die ukrainische Volksmusik offenbarte sich als eine lebendige, vielstimmige Tradition, die Hoffnung, Identität und Gemeinschaft stiftet – in der Ukraine ebenso wie im Exil.
rvz
Fotos: Das Ensemble Religimuz unter Leitung von Nadiya Pakosh verband geistliche und traditionelle Gesänge, 8.11.2025 im Kultursaal des LVR-Klinikums Düsseldorf; der RAI-Chor unter der Leitung von Mariana Sadovska; Dr. Michael Reitemeyer vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW; Präsentationstische von Partnerorganisationen im Vorraum des Symposiums; Michael Reitemeyer, Christine Siegert, Yaromyr Bozhenko, Konsul Oleh Yevdokimov und Olesya Cherepynska im Gespräch; das Vokal-Ensemble Ralets eröffnet das Symposium am 8.11.2025 im Kultursaal des LVR-Klinikums; Fotos: LMR NRW.