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Tagung „Musik schreiben für interkulturelles Musizieren“ des Landesmusikrats NRW und der Landesmusikakademie NRW in Essen

Bei den Kulturen verbindenden Projekten des Programms Brückenklang stellen sich oft Repertoire-Fragen: Was studieren die heterogenen Besetzungen ein, wie gelangen sie gar zu einem abendfüllenden Programm? Viele Ensemble-Leiter arrangieren für den eigenen Gebrauch, andere erarbeiten als Komponisten besetzungsmäßig neue Formen von Musik. Immer wieder stellt sich das Problem mit verschiedenen Tonskalen der Instrumente umgehen zu müssen, unterschiedliche dynamische Voraussetzungen berücksichtigen zu müssen oder in einem mehrstimmigen Satz verschiedene kulturelle Kontexte angemessen zu behandeln.

Die Tagung "Musik schreiben für interkulturelles Musizieren" des Landesmusikrats, der Landesmusikmusikakademie NRW und der Folkwang Universität der Künste führte am 16. November 2018 Komponisten, Arrangeure und Ensemble-Leiter zum Erfahrungsaustausch zusammen. In Vorträgen, Diskussionen und praktischen Demonstrationen gingen sie sowohl grundsätzlichen als auch speziellen Problemen nach. Je spezieller, desto engagierter wurde für die richtige Lösung gestritten. Keine Frage wurde länger behandelt als die, wie man im Aussetzen eines mehrstimmigen Satzes Stimmen mit Vierteltönen behandelt.

Andreas Jacob, Rektor der Folkwang Universität der Künste, führte zusammen mit Kompositionsprofessor Günter Steinke in das „Komponieren für Besetzungen verschiedener Kulturen“ ein. Der Begriff Komposition ist an einen sehr engen Traditionsrahmen gebunden, so Jacob. Wer erfindet schon Musik, die er niederschreibt? Komponieren bedeutet eher ein Zusammensetzen von Musik. Verbindliche Notation - von der die Tagung ausging - ist weltweit gesehen eigentlich eher die Ausnahme. Jacob brachte Notationsbeispiele aus der rituellen Praxis des Bön (Tibet) und viele mehr. Günter Steinke plädierte dafür, sich mit den Zusamnenhängen und dem Inhalt einer Musik aus anderer Kultur auseinanderzusetzen. Aus dieser intensiven Beschäftigung entstehe auch die ästhetische Berechtigung, die Musik zu verändern.

Anne Tüshaus (BTHVN2020) schilderte den Bedarf an interkulturellen Kompositionen im nicht-professionellen Musikleben von NRW. Die Vielfalt an Ensembles hungert nach Repertoire. Viele Arrangements entstehen, verbreiten sich aber kaum über die Ensembles, für die sie geschrieben werden, hinaus. Das Programm Brückenklang erstellte eine Repertoireliste mit Angaben zur Erreichbarkeit. Sie ist keineswegs vollständig, birgt aber schon manche Schätze, die sich lohnen aufzuführen. Viele Schwierigkeiten sind bei der Weitergabe von Literatur zu meisten. Das Zurverfügungstellen von Notenmaterial reiche nicht, so Tüshaus, meist müsse Vormachen und Nachmachen hinzutreten. Es bedarf auch der Erläuterung der Kontexte. Tüshaus rief zu einem intensiveren Diskurs zwischen Komponisten und Musikern der Breitenkultur auf. Die Vermittlungskompetenz von Musikern anderer Kulturen müsse dabei genutzt werden.

Wie das praktisch gehen kann, demonstrierte Ruddi Sodemann (bis Anfang November noch Vorsitzender des Landesverbandes der Musikschulen in NRW) anhand eines eigenen mehrstimmigen Arrangements einer türkischen Melodie. Alle Stimmen verwenden Elemente der ursprünglichen Melodie, so wird dieser nichts Fremdes aufgezwungen. Die Diskussion hinterfragte kritisch, wie man Kommatöne aus Maqamat mit anderen Stimmen unterlegt und wie man Vierteltöne harmonisieren kann. Saad Thamir zeigte, dass man Vierteltöne der arabischen Musik harmonisieren kann, indem man auf die anderen Töne des jeweiligen Maqams zurückgreift und sie gegebenenfalls oktaviert.

Ahmet Bektas, Ensembleleiter der Musikschule Bochum, führte vor, wie er im Ensemble Instrumente anderer Kulturen und ihre Spielweisen einführt. Er neigt dazu, auf Maqamat eher zu verzichten, wenn es in der Mehrtönigkeit zu Schwierigkeiten kommt. Wichtig ist es ihm, jede instrumentale Spielweise kulturell zu erläutern. Tom Daun stellte seine Arrangements vor, die er bei einem Projekt über „Kerivo“ mit dem kurdischen Sänger Saher Issa erarbeitete. Issa sang und spielte auf der Baglama Melodieteile, aus der zunächst eine einstimmige, dann eine mehrstimmige Fassung entstand. Daun arrangierte sie für die Bergischen Sinfoniker, die diese erfolgreich in Solingen und in Remscheid aufführten.

Anders gestaltete Daun ein Projekt mit dem Orchester der Musikschule Solingen. Der „Basar der Klänge“ begann mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aller Altersschichten und erarbeitete in drei Proben ein Programm, für das kurdische Musiker ihre Lieblingsstücke benannten. Nach Youtube-Videos schrieb Daun eine Partitur aus. „Simin Beri“ enthält auch Improvisationsteile über Ostinati der anderen Spielerinnen und Spieler. Bei einem Solinger Stadtfest erklangen diese in der Fußgängerzone.

Annegret Keller-Stegmann organisiert in Duisburg das Allerweltensemble, in das Musikerinnen und Musiker verschiedener Kulturen drängen - dies oft, weil sie zuhause problematische Verhältnisse haben und andere Orte der Betätigung suchen. Die Musiksprache soll global sein. Keller-Stegmann stellt fest, dass afrikanische Flüchtlinge die Mehrstimmigkeit schätzen, arabische und persische hingegen eher die Linearität. Bei der Erarbeitung eines Lieds, etwa „Für das Leben“, musste das politische Sujet genau erarbeitet werden. Die Themen sind aktuell (Flucht), die Affekte berühren die Sängerinnen und Sänger sehr verschieden. Im Refrain drückt stets eine gemeinsame Metapher das Empfinden aller aus, die Strophen bieten Raum für die individuelle Ausgestaltung.
Erlöse und Nachwuchsarbeit

Die interkulturelle Komposition mag dieser Schwierigkeiten noch so gekonnt gemeistert haben, sein Auskommen findet der Komponist oder die Komponistin noch lange nicht. Die Tagung behandelte deshalb auch die Probleme der Erlösmöglichkeiten. Marc-André Höper, Verwertungsrecht-Spezialist, und Matthias Hornschuh aus dem GEMA-Aufsichtsrat informierten darüber, wie man vom Komponieren in der kulturellen Vielfalt leben kann. Komponistinnen und Komponisten leben in aller Regel von Lizenzen ihres Schaffens. Die Lizenzen sind dabei auf  ein international anerkanntes und funktionierendes Urheber- und Verwertungsrecht angewiesen. 58,4 % der Einnahmen von Komponisten und Textdichtern stammen aus Ausschüttungen von Verwertungsgesellschaften, so Hornschuh.

In Brüssel hatten gerade am Vortag der Tagung Parlamentarier und Spezialisten den Weg der EU zum Author‘s Right weiter entwickelt. Diese Entwicklung ist bitter nötig, denn die internationalen Anbieter von Internetplattformen schütten nicht oder kaum aus. Die Nutzungszahlen explodieren, die Einkünfte der Urheber werden immer geringer. Lizenzvergütungen, Nutzungsvergütungen und Erlösbeteiligungen sind auch für Komponisten von interkultureller Musik von großer Bedeutung. Marc-André Höper differenzierte die Rechte, die Komponisten auch von interkultureller Musik haben. Der Dass der Komponist eine Verwertungsgesellschaft mit der treuhänderischen Wahrnehmung seiner Rechte beauftragt, ist nicht zwingend. GEMA, C3S und GVL sind relevante Gesellschaften, die die Wahrnehmung der Rechte professionalisiert übernehmen. Damit hat man die freie Verfügungsmöglichkeit über seine Werke auch verloren. Selbst wenn man in einer eigenen Veranstaltung eigene Werke aufführt, muss man zunächst einmal an die GEMA zahlen. Die Ausschüttung erfolgt später.

Die Komponisten im Publikum beklagten sich darüber, dass interkulturelle Musik mit Improvisationsanteilen per se nicht in die höchste GEMA-Kategorie der komponierten Neuen Musik eingeordnet wird. Enthält die Komposition tradierte Melodien, wird sie als Bearbeitung eingeordnet. Insgesamt seien interkulturelle Kompositionen bei den Ausschüttungen der GEMA wenig ertragreich. Höper und Hornschuh wiesen auf Auswege für Einzelfälle hin und auf Gremien, die über Beschwerden entscheiden. Letztlich sind es die Urheber als GEMA-Mitglieder, die über die Bedingungen der Einordnung von Stücken entscheiden.

Ein Referat bezog sich auf die Nachwuchsarbeit: Der Kasseler Musikwissenschaftler Ulrich Götte stellte das Zentrum für interkulturelle Musik in Kassel vor und berichtete über dessen Youth World Music Orchestra. 15 bis 25 Jahre sind die Musikerinnen und Musiker alt, die Musik aus Afrika, Indien, China, Japan, der Türkei, Israel und Europa spielen. 2019 sollen sie mit ähnlichen Ensembles aus anderen Ländern zusammen spielen. Mit den Werken wird auch möglichst viel von den Kulturen selbst vermittelt. Beispiele (per Midi und Partituren) sind das türkische „Taqsim“ und der Zugang zu Tanzrhythmen oder auch ein „Freudengesang“ aus afrikanischen Ländern, Gamelanmusik u.a.

Praxisberichte

Der irakstämmige Musiker Saad Thamir macht seit vielen Jahren durch Kulturen und Religionen verbindende Musikprojekte auf sich aufmerksam. In einem Praxisbericht schilderte er seine Sicht auf die arabische Musik. Als obersten Wert arabischer Kultur sieht er die Unendlichkeit an. Die Maqamat lassen sich aneinander reihen und ineinander verschränken, so dass sich eine unendliche Zahl von Kombinationen ergibt. Ein Sänger kann daraus einen sechsstündigen Vortrag gestalten, der für arabische Ohren nie langweilig werde. Dafür kenne die arabische Kultur keine Dramaturgie der Musik, so wie sie auch keine Tragödie und keine Komödie kenne. Es sei die Unendlichkeit, die das Potenzial an Spannungen berge, so Thamir, und es sei die Kunst der Musiker, hieraus ihre Klänge zu gestalten.

Die Holzblasspezialistin Maren Lueg hat in London studiert und Kulturen in Kairo und vielen weiteren Städten studiert. Die Vermittlung des musikalischen Könnens erfolgte viel über Hören und soziale Interaktion. Für sie gibt es keinen bestimmenden Okzident-Orient-Gegensatz, sondern einen zwischen akademischer und gelebter Musik - eine These, die in der Diskussion von mehreren Seiten in Frage gestellt wurde. Ihr Praxisbericht galt dem Austausch von schottischer und arabischer Musik und einem Projekt mit dem Hagener Kammerorchester, das ein arabisch beeinflusstes Programm einstudierte. In arabischen Städten sei der kulturelle Austausch von komponierenden Musikern verschiedener Kulturen seit vielen Jahrzehnten selbstverständlich, so Lueg, während er in Deutschland mühsam erlernt werden müsse.

Andreas Heuser arrangiert und komponiert für das Transorient Orchestra in Dortmund. Die Musiker und ihre Instrumente stammen aus vielen Kulturen. Die westlichen Spielweisen wären theoretisch auf verwandte Instrumente anderer Kulturen übertragbar, doch meist sind sie dort wenig üblich. So muss Heuser ständig Kompromisse finden. Auch in Bezug auf die Kommatöne, die viele Instrumente nicht können und die in anderen Stimmen keine sinnvollen Entsprechungen finden. Nicht alles müsse mehrstimmig sein. Beim richtigen Spiel bilden Schwebungen Klanggeflechte um einstimmige Melodien, die mehrstimmig wirken würden. Die Arrangements setzen teils die westlichen und orientalischen Instrumente blockhaft im Wechsel eineinander gegenüber. Es sind Qualitäten, die aufgefallen sind: Der WDR hat das Transorient Orchestre mit dem WDR Jazzpreis in der Kategorie Musikkulturen ausgezeichnet. Die Hörbeispiele führten dann auch zu kritischen Fragen aus dem Publikum, ob es sich hier nicht einfach um Jazz handele. Je nach Standpunkt, erwiderte Heuser. Für Jazzer sei es interkulturelle Musik, für andere eher Jazz.

Günter Steinke und Robert von Zahn bilanzierten am Schluss der Tagung, dass die Findigkeit der Komponisten und Arrangeure in Bezug auf die praktischen Probleme interkultureller Musik beeindruckend sei. Es lohnt sich, dieses Forum fortzusetzen und Lösungen zu verbreiten. Auffallend war auch, wie viele Kompositionen und Arrangements mit großem Aufwand für eine Ensemble und eine begrenzte Zahl von Aufführungen erarbeitet werden und dann kaum noch genutzt werden. Die Literaturlisten, die Brückenklang von Landesmusikrat und Landesmusikakademie NRW, MüzikNRW des Landesverbands der Musikschulen in NRW oder auch die Initiative singbar-international.de in Duisburg vorhalten, sind ehrenwert, führen aber noch nicht zu einer effektiven Verbreitung des einschlägigen Repertoires. Hier werden die Verbände noch neue Wege gehen müssen.

Brückenklang-Referentin Anika Mittendorf hat die Tagung organisiert, unterstützt von Abhilash Arackal. Günter Steinke und Robert von Zahn moderierten den Tag. Gefördert wird Brückenklang vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW.

rvz

Fotos: Andreas Jacob, Günter Steinke, Annegret Keller-Stegmann, Ahmet Bektas, Marc-André Höper und Matthias Hornschuh, Anne Tüshaus, Ulli Götte, Tom Daun, Saad Thamir, Maren Lueg, Ruddi Sodemann und Andreas Heuser in der Tagung  "Musik schreiben für interkulturelles Musizieren" in der Folkwang Universität der Künste am 16. November 2018; Fotos: LMR NRW