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Personen 60+ suchen Musikangebote

„Dritter Lebensabschnitt“ als Thema beim Musikschulkongress im Kongresszentrum Mainz

Noch ist die Beschäftigung mit Fragen des aktiven Musizierens im Alter ein relativ junges Feld und die wenigen Forscher sind an ein bis zwei Händen abzuzählen. Drei der führenden Köpfe waren am Wochenende auf dem Musikschulkongress im Congress Centrum in Mainz zu hören, der in seinem umfangreichen Programm in diesem Jahr auch Arbeitsgruppen zum Thema „Dritter Lebensabschnitt“ vorsah. Und die gute Resonanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Reihen der kommunalen Musikschulen scheint darauf hinzuweisen, dass dieser Forschungs- und Arbeitsbereich  in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird.

Theo Hartogh, Professor für Musikpädagogik an der Universität Vechta, verwies in seinem Referat auf die demographische Entwicklung. Immer mehr gut ausgebildete und kulturell interessierte Menschen kommen in das Rentenalter und suchen passgenaue Angebote. Diese gerade aus dem Berufsleben ausgeschiedene Personen empfinden sich selbst aber noch nicht als „alt“, daher sollte man bei ihrer Ansprache auf Formulierungen wie „Angebot für Senioren“ verzichten und die Zielgruppen lieber als „50+“ oder „60+“ bezeichnen. Erst ab ca. 75 Jahren empfinden die Menschen sich selbst als alt. Daher habe sich eine grobe Unterscheidung in ein 3. Lebensalter (60 bis 75 Jahre) und ein 4. Lebensalter (ab 75 Jahre) bewährt, bei dem dann fehlende Mobilität, Pflege und Demenz eine zunehmende Rolle spielen. Für die Zielgruppe 3. Lebensalter ständen aber noch das Lernen und die musikalischen Inhalte im Vordergrund, für die Menschen im 4. Lebensalter mehr der Begegnungsaspekt. An Menschen im 4. Lebensalter komme man praktisch nur über Alteneinrichtungen heran, obwohl 70 % der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt würden. Das in Münster ursprünglich für letztere entwickelte Konzept „Musik auf Rädern“ werde in der Regel nicht von Privatpersonen, sondern ebenfalls von Alteneinrichtungen angenommen.
Unterricht und Angebote für Senioren an den Musikschulen und Kooperationen von Musikschulen mit Alteneinrichtungen stünden gleichwohl unter einem größeren Legitimationszwang als Angebote für Kinder und Jugendliche. Das Bekenntnis der Fachverbände (Wiesbadener Erklärung von 2007 des Deutschen Musikrats) und der kommunalen Spitzenverbände (Leitlinien des Deutschen Städtetags, des Deutschen Landkreistags und des Deutschen Gemeindebunds von 2010) zu diesem Aufgabenbereich biete den Musikschulen eine Argumentationsgrundlage, solche Angebote in der Praxis auch umzusetzen. Hartogh verwies auf die sehr erfolgreich arbeitende Musikakademie für Senioren in Hamburg, die dem Bedürfnis nach besonderen Musikangeboten Rechnung trage und sehr gut angenommen werde.

Hans Hermann Wickel, Professor für Musikpädagogik an der Fachhochschule Münster, hat zusammen mit Theo Hartogh eine Weiterbildung zum Thema „Musikgeragogik“ entwickelt. Ein Studium, das auf dieses Arbeitsfeld hinführt, gibt es noch nicht. Eine Besonderheit bestehe darin, führte er aus, dass es keine Zielgruppe im eigentlichen Sinne gebe. Man müsse sehr stark differenzieren und die Methoden auf den jeweiligen Personenkreis ausrichten. Es gebe zwar Zugänge von der Allgemeinen Musikpädagogik (AMP) bzw. Elementaren Musikpädagogik (EMP); die Konzepte könnten aber nicht eins zu eins übernommen werden. Einen weiteren Zugang biete die Rhythmik. Für das Musizieren in Instrumentalensembles sei die Fähigkeit, für ungewöhnliche Besetzungen zu arrangieren, hilfreich. Die Rahmenbedingungen für Ensemblearbeit sollten neu zu überdacht werden, z.B. seien Probenzeiten am Vormittag günstiger als am Abend, vor allem im Winter, und Angebote in den Schulferien sinnvoll, da Menschen im Ruhestand häufig nicht mehr in der Hochsaison verreisten.
Die Besonderheit bei Angeboten für Ältere sei es, dass didaktische Ziele erst „ausgehandelt“ werden müssten. Es gehe nicht darum, ein Curriculum vorzugeben, sondern auf individuelle Wünsche, Voraussetzungen und ggf. auch Beschränkungen einzugehen. Wenn man dies berücksichtige, sei die Leistungsbereitschaft höher als bei Kindern und Jugendlichen. Von zentraler Bedeutung erweise sich der biografische Bezug. Mittlerweile gebe es daher auch die Nachfrage nach Angeboten im Bereich Rockmusik. Angesichts der heutigen Vielfalt von Musikstilen bei den Jugendkulturen werde sich dies wahrscheinlich noch weiter ausdifferenzieren. Nicht jeder könne aber in allen Musikstilen Angebote machen, Musikstile könnten nur vermittelt werden, wenn man selbst einen persönlichen Bezug dazu habe. In den musikgeragogischen Fortbildungen vermittelt würde gerontologisches Wissen und Strategien für ein situationsangepasstes Vorgehen. Die Berufsbezeichnung „Musikgeragoge“ sei wie „Musiktherapeut“ nicht geschützt.

Hartogh empfahl auf Nachfrage, im Instrumentalbereich projekthafte Angebote anzubieten, z.B. fünf Doppelstunden Gruppenunterricht, nach denen die Teilnehmer sich für ein Weitermachen auf einem Instrument entscheiden können. Die Musikschulen sollten zudem versuchen, Kooperationen mit Alteneinrichtungen einzugehen, um dort Angebote machen zu können. Auf den Einwand, dass Einrichtungen dies ablehnten, wenn dort bereits Musiktherapie angeboten würde, bemerkte Hartogh, dass die Musikschulen selbstbewusst in eine solche Auseinandersetzung gehen sollten. Ältere Menschen hätten ein Recht auf kulturelle Teilhabe; Therapie sei nicht die Aufgabe der Musikschulen. Auch Angebote im Bereich Musikvermittlung würden von Älteren gerne angenommen.

Einen Eindruck von der praktischen Arbeit in Alteneinrichtungen bot Barbara Metzger, Professorin für Elementare Musikpädagogik an der Musikhochschule Würzburg. Sie demonstrierte, nach welchen Grundsätzen eine Musikstunde im Altenheim aufgebaut werden sollte, um die Teilnehmer zum Mitmachen zu motivieren und ihnen das Gefühl zu vermitteln, respektvoll behandelt und mit ihrer individuellen Lebenserfahrung ernst genommen zu werden. Da die Gruppen in der Regel sehr heterogen sind (Alter von ca. 75 bis 100 Jahren), die Zusammensetzung häufig wechselt und Personen mit Demenzerkrankung teilnehmen, wird auf die Wiederholung von Musikstundeninhalten verzichtet und jede Stunde abgeschlossen zu einem Thema konzipiert. Unverzichtbar ist zu Beginn die Begrüßung und persönliche Ansprache und beim Singen und Verwenden einfacher Instrumente (Klanghölzer, Tambourin, Triangel sowie zum Thema mitgebrachte Gegenstände, mit denen man Klänge und Geräusche erzeugen kann) ein Animieren durch große Gesten. Niemand wird auf seine Gebrechen hingewiesen, sondern individuell in dem unterstützt, was möglich ist. Beabsichtigt ist ein Interagieren und der Austausch untereinander. Barbara Metzger zeigte sich als wahre Motivationskünstlerin und machte deutlich, dass dies auch die eigentliche Herausforderung einer solchen Arbeit in Alteneinrichtungen ist. Das Ziel sei nicht, „Können“ zu vermitteln, sondern im Mittelpunkt stehe der Prozess. Auf Nachfrage erläuterte sie, dass Sekundäreffekte bei diesem Personenkreis schwer zu evaluieren seien. In den Bundesländern gebe es große Qualitätsunterschiede in der Pflege; in Schleswig-Holstein z.B. sehe man halbe Stellen für Musikgeragogen vor. Um Angebote in Alteneinrichtungen machen zu können, sei es von Vorteil, wenn der Träger von Musikschule und Einrichtung der gleiche sei; den Bewohnern in Mittelklasse-Altenheimen bliebe in der Regel kein Geld für eine zusätzliche Finanzierung.
Wie gut auch eine generatiosnübergreifende Arbeit funktioniert, zeigte abschließend ein Ausschnitt aus einer DVD, die Studierende der Musikhochschule Würzburg über ein Projekt erstellt haben: Grundschulkinder kommen ins Altenheim in die Musikstunde und beide Seiten profitieren von dem musikalischen Zusammentreffen.

hs                                                                                                                        

Materialien der genannten Arbeitsgruppen des VdM-Kongresses am 20. Mai sowie der beiden Arbeitsgruppen am 21. Mai zum Thema „Drittes Lebensalter“ von Prof. Werner Rizzi („Bin ich schon Senior oder noch erwachsen …?“ über Aspekte des Singens im höheren Alter ) und Prof. Wolfhagen Sobirey „2. Aufruf – Musik(schul)angebote für alte und sehr alte Menschen“ sollen auf der Seite des Verbands deutscher Musikschulen noch eingestellt werden:

<link http: www.musikschulen.de projekte musikschulkongress index.html _blank>www.musikschulen.de/projekte/musikschulkongress/index.html

Am 29. September 2011 findet in Rendsburg der 1. Bundesfachtag Musikgeragogik statt. Informationen hierzu sowie über Weiterbildungen und Literatur zu diesem Thema findet sich auf der Seite: <link http: www.musikgeragogik.de>www.musikgeragogik.de                                 

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Der Landesmusikrat NRW hat bei seiner letzten Mitgliederversammlung im September 2010 „Musik und Alter“ als neuen Themenschwerpunkt gewählt. Dabei geht es auch um die Weiterentwicklung von Neuansätzen der musikalischen Bildung sowie deren institutionelle Verankerung.

Foto1: Das Kongresszentrum in Mainz. Foto: Messe Mainz

Foto2: Prof. Barbara Metzer. Foto: Hochschule für Musik Würzburg

Foto3: Arbeitsgruppe "Interagieren und Aktivieren - Elementares Musizieren mit älteren Menschen" beim Musikschulkongress in Mainz. Foto: LMR NRW