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Partituren werden zu Klang entwickelt: Eine Kompositionswerkstatt

Der WDR bot in Zusammenarbeit mit dem Landesmusikrat NRW sein Sinfonieorchester auf, damit Komponistinnen und Komponisten ihre neuen Werke in der Werkstatt erproben können. Eine Jury wählte sechs aus über dreißig Bewerberinnen und Bewerbern aus, die vom 15. bis 17. Januar mit dem Orchester und Dirigent Johannes Kalitzke arbeiteten: Brendan Champeaux probte sein Werk „Hiatus“ (2023), Soyoung Kim ihr Werk „Foramen“ (2023), Zaneta Rydzewska ihre Komposition „Frost“ (2023), Miguel Urquizo sein „El abismo de la memoria“ (2023), Marc L. Vogler seine Dichtung „Monotono“ (2023) und Tigrio R. Witrago sein Werk „Tres reflexiones sobre la resonancia“ (2023).

Das Abschlusskonzert sendete der WDR in der Reihe 'Musik der Zeit' live. Moderatorin Susanne Herzog führte durch das Programm und sprach auf der Bühne mit Beteiligten. Die Redaktion lag bei Patrick Hahn, seitens des Landesmusikrats NRW betreute Eva Luise Roth die Werkstatt. Die Jury (Brigitta Muntendorf, Baldur Brönnimann, Oren Shevlin, André Sebald und Patrick Hahn) beurteilte die Werke mit einem Punktesystem und wählte sechs aus.

Miguel Urquizo schuf sein Werk „El abismo de la memoria“ mit Maltechniken, die er auf die Musik übertrug. Die Décalcomanie trägt eine Farbe auf eine glatte Oberfläche auf, auf die dann eine Folie aufgedrückt wird. Zieht man die Folie ab, ergeben sich zufällige Farbgestaltungen, die durch das Auftragen der Farbe auf die glatte Fläche rudimentär nur vorgegeben waren. Das Gemälde „Ursprung der Einsamkeit“ von Shuzo Takiguchi inspirierte Urquizo zum Transfer in die Musik. Er legte Grundwerte an Harmonie, Rhythmus und Klang fest, überließ innerhalb des Festgesetzten dann aber vieles dem Zufall. Das Abziehen der Folie von der glatten Fläche übersetzt er mit Glissandi in die Komposition. Gerade die Freiräume in seinem Werk sorgten für manche Überraschung des Komponisten in den Proben, wie Urquizo im Bühnengespräch mit Moderatorin Susanne Herzog feststellte.

Zaneta Rydzewska ging mit großen Erwartungen in die Werkstatt, denn sie hatte die Stimmen ihres Werks „Frost“ einzeln erarbeitet und übereinandergeschichtet, ohne sich den Zusammenklang schon komplett vorstellen zu können. Die Interpretation durch das WDR Sinfonieorchester war für sie eine wunderbare Erfahrung, wie sie berichtete, denn im Gesamtklang blieb die Schichtung transparent. Das war ihr wichtig, weil „Frost“ darstellt, wie Kälte einen Körper allmählich Schicht für Schicht durchdringt. Brendan Champeaux thematisiert in „Hiatus“ Widersprüche, die aufeinandertreffen. Die Widersprüche bestehen in der Dynamik oder in der Dauer oder im Klang von Tongruppen. Die Zusammenstöße des Verschiedenen werden regelmäßiger und der Schluss des Werks besteht nur noch aus einer Reihe tiefer Orchesterschläge.

Tigrio Witrago stellt die musikalische Artikulation und deren Resonanz in den Mittelpunkt seines Werks „Tres reflexiones sobre la resonancia“. Beim Komponieren fing er mit Details an, arbeitet Schlüsselpassagen in Skizzen aus und nutzte dabei in traditioneller Weise Papier und Bleistift. Mit jeder Komposition für Sinfonieorchester – es ist seine vierte – lerne er sehr viel, versicherte er Susanne Herzog. Im Dialog mit dem WDR Sinfonieorchester schliff er die Artikulationen vieler Passagen, die er exakt ausnotierte. Soyoung Kim taufte ihr Stück „Foramen“ gleich „Öffnung“. Es geht ihr um Licht, das durch eine Öffnung fällt und sich verändert. Sie kam in einer Kirche auf die Idee, dies in Klang umzusetzen, als Licht abwechslungsreich durch ein farbiges Fenster fiel.

Mark L Vogler aus Witten nennt sein Werk keck „Monotono“. Er wollte keineswegs langweilen, vielmehr eine Komposition um einen Ton kreisen lassen, in diesem Fall um das Es. Tongruppen werden wie Legobauten um den Zentralton herumgebaut und in andere Stimmgruppen weitergegeben. Brückentöne ermöglichen den nahtlosen Transfer. „Die Herausforderung ist es, sich zu limitieren, gerade bei der üppigen Besetzung des WDR Sinfonieorchesters,“ so Vogler. Und in der Tat wirkt seine Komposition über Strecken bemerkenswert sparsam. Sie ist dabei dem Tonalen eng verbunden und auf sinnliche Klanglichkeit aus. „Im Studium lernt man viele praktische Details des Orchesterspiels leider nicht,“ erläutert Vogler, „doch in der Werkstatt mit dem WDR Sinfonieorchester kann man sie alle probieren.“

Die Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters sind einiges gewohnt, gerade auch, was Musik der Gegenwart angeht. Sie liegt im Falle des WDR Sinfonieorchesters so häufig auf den Pulten, dass dieses schon wie ein Spezialensemble an die Avantgarde herangeht. Unklarheiten gibt es gleichwohl. Besondere Anforderungen an Artikulation und Dynamik verlangen eine besondere Notation. Und diese ist keineswegs standardisiert, worauf Dirigent Johannes Kalitzke hinwies. Ein Blick in die Legende der Partitur und des Aufführungsmaterials ist bei jedem Stück notwendig und auch nach deren Lektüre muss einiges mit den Komponistinnen und Komponisten diskutiert werden. Solofagottist Mathis Stierer läuterte, dass manche Anforderungen einfach nicht zu erfüllen sind. Wenn das Fagott ohne Mundstück geblasen werden soll und die Partitur dabei auch noch verschiedene Griffe vorsieht, wirken sich letztere auf den entstehenden Klang nicht mehr aus. Er sprach in der Werkstatt mit dem Komponisten und beide fanden zusammen eine alternative Lösung.

So ermöglichte der WDR in Zusammenarbeit mit dem Landesmusikrat NRW eine mustergültige Werkstatt, in der man erleben konnte, wie Ideen zu Realität werden und sich dabei verändern. Ein exemplarisches Stück der „Musik der Zeit“, für das Redakteur Patrick Hahn zu danken ist.

rvz

Kompositionswerkstatt: Tigrio R. Witrago, Johannes Kalitzke, Soyoung Kim, Brendan Champeaux, Miguel Urquizo, Zaneta Rydzewska und Marc L. Vogler, dahinter das WDR Sinfonieorchester am 17 Januar 2024 im Klaus von Bismarck-Saal des Kölner Funkhauses. Foto: LMR NRW.

Vgl. auch: „Musik der Zeit“: So war die Orchesterwerkstatt des WDR | Kölner Stadt-Anzeiger