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"Musik in sozialer Verantwortung": Tagung des Landesmusikrats NRW vom 3. Oktober 2018 in der Folkwang Universität der Künste, Essen

Mitunter mag noch die alte Forderung „L’art pour l’art“ erhoben werden, doch im nordrhein-westfälischen Kulturleben ist die Eingebundenheit von Musik und Musizieren in soziale Verknüpfungen, Aufgaben und gesellschaftliche Strukturen ständig zu beobachten. Gleichwohl sind sich Musikerinnen und Musiker oft der sozialen Verantwortung, in der sie spielen und singen, gar nicht bewusst. Ihre Wirkungen entfalten ein ebenso feines Gewebe wie umgekehrt Impulse aus sozialen Gegebenheiten auf das Musizieren in komplexer Form einwirken.

Die Tagung „Musik in sozialer Verantwortung“ des Landesmusikrats NRW zeigte am 3. Oktober 2018 die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von Musik und Musizieren auf. Sie diskutierte Vermittlungsstrategien in sozialen Zusammenhängen und Möglichkeiten der Barrierefreiheit, sie ging Gefahren der Vereinnahmung durch Ideologien nach.

Zwei Hauptvorträge galten zentralen Aspekten der Tagungsthematik, den sozialen Dimensionen und der Gefahr der ideologischen Vereinnahmung. Impulsreferate beleuchteten weitere Aspekte aus gegensätzlichen Positionen. Die dialektischen Impulse regten die Diskussion auf dem Podium und im Plenum an. Thomas Greuel zeigte im Eröffnungsvortrag die "sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen des gemeinsamen Musizierens" auf: Musik machen in Ensembles und Bands stellt nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein soziales Geschehen dar. Es gibt genügend Anlässe zu fragen, ob man die Verantwortung des sozialen und politischen Geschehens nicht auch als Musiker in der Zivilgesellschaft wahrnehmen muss. Greuel wählte eine phänomenologische Perspektive und erörterte acht Aspekte der sozialen Verantwortung.

Als habe Greuel damit ein Stichwort gegeben, traten der Chor „Women of Wuppertal“ und ihre Leiterin Hayat Chaoui auf die Bühne. Die dreißig Sängerinnen repräsentieren mehr als ein Dutzend an Herkunftskulturen, zugleich an erstaunliches Spektrum an Berufen, von Supermarkt-Mitarbeiterinnen bis zu Ingenieurinnen und Ärztinnen. Einige Sängerinnen waren in ihren Herkunftsländern Soldatinnen. Hayat Chaoui skizzierte das Projekt in einem Impulsreferat. Der Chor entstand aus einer Maßnahme für Mütter mit Migrationshintergrund des Wuppertaler Jobcenters, des sozial engagierten Vereins Alpha und der Bergischen Musikschule. Der Chor der Maßnahme trifft sich einmal wöchentlich. Über Körperarbeit, Stimm- und Atemtechnik studiert er Haltung und Bühnenpräsenz ein.

Der Chor geht auf die Sprachen der Mitglieder ein, so bringt jede Sängerin Sprachkompetenz ein und erfährt dadurch auch Anerkennung. Dem Maßnahmenchor steht ein offener Chor als Anschlussangebot zur Seite, zu dem alle interessierten Wuppertalerinnen stoßen können. Die „Women of Wuppertal“ boten einen beeindruckenden und manchenteils anrührenden halbstündigen Auftritt. Sie sangen „Malaika“ von Fadhili William, eine Weise aus Kenia und Tansania, das mittelalterliche „Lamma bada yatathanna“ aus Andalusien, das heute vor allem im ostarabischen Raum gesungen wird, und den Song „Olele“ aus dem Kongo, dem sie eine Performance von Wald- und Tierlauten voranstellten. Einige Sängerinnen traten zu solistischen Einwürfen und Duos hervor, begleitet von Igor Parfenov am Flügel.

Informelles Aneignen und formale Bildung

Für die Perspektive auf Musik in sozialer Verantwortung sind Strategien zur Teilhabe an musikalischer Bildung und zur Musik in kultureller Vielfalt von besonderer Relevanz. Musikalische Bildung sollte im Kontext der aktuellen Gesellschaft und der kulturellen Vielfalt stehen. Wie wandlungsfähig ist da die formale Bildung in der Schule und die informelle Bildung außerhalb? Zwei Impulsreferate sollten das Feld dialektisch abstecken, doch Referentin Natalia Ardila-Mantilla und Referent Dieter Döben ließen sich nicht in Schaukämpfe locken.

Natalia Ardila-Mantilla stellte Fragen an das Publikum, um es zum Nachdenken über die Informelle Aneignung von Musik zu bringen, etwa: Wer hat je im Kreis der Familie gesungen? Die übliche Gliederung zwischen dem Formalen und dem Informellen lautete: Formales Lernen geschieht in Bildungseinrichtungen, gegliedert durch Lehrpläne, kontrolliert durch Prüfungen. Informelles Lernen erfolgt außerhalb von Bildungseinrichtungen ohne Lehrpläne und Prüfungen. Charakteristisch ist beim informellen Lernen die Selbstbestimmung des Lernenden. Doch die Gliederung ist überholt, denn oft erfolgt formales und informelles Lernen in der Schule gleichzeitig, etwa auf Schulhöfen. Manchmal übernehmen auch Lehrer Methoden des informellen Lernens.

Auch Dieter Döben, Schulmusiker am kirchlichen Mariengymnasium in Mönchengladbach, zeigte wenig Lust, sich auf die Polarisierung des Themas einzulassen. Als er 1991 seine Stelle antrat, traf er auf eine homogene Schülerschaft. Heute ist sie heterogen. Das verändert die Unterrichtspraxis in einem übergreifenden Prozess, der alle Akteure einbezieht. Ein selbstgesteuertes Lernen, kooperativ und binnendifferenziert, ist heute selbstverständlicher Bezugspunkt der Didaktik. Die Methoden ändern sich. Der Frontalunterricht nimmt ab, kooperative Methoden ziehen ein. Die Diskussion hinterfragte die sozialen Bezüge der formalen wie der informellen Bildung. In beiden Bereichen machten Beitragende große Defizite aus. Hayat Chaoui und Natalia Ardila-Mantilla schilderten, wie viel intensiver das Singen und Musizieren im Alltag in anderen Ländern und Kulturen verbreitet sei. Dieses intensive Moment einer informellen Bildung sei in Deutschland weitaus weniger ausgeprägt und damit würden auch entsprechende soziale Bindungen seltener entstehen.

Auch beklagten Beiträge aus dem Publikum das Fehlen von Lehrkräften in der musikalischen Bildung. Natalia Ardila-Mantilla wies darauf hin, dass so viele selbständige Musikpädagogen und auch solche, die an Musikschulen arbeiten, in prekären Verhältnissen leben würden, dass es kein Wunder sei, dass sich die junge Generation zu anderen Berufsfeldern hin orientieren würde. Doch warum gilt das Phänomen der gravierenden Unterzahl auch für die Schulmusiker? Dieter Döben sah hier vor allem das Phänomen des grassierenden Unterrichtsausfalls und des fachfremd gegebenen Musikunterrichts als verantwortlich dafür an, dass Schülerinnen und Schüler kein Sinn für den Beruf als Schulmusiker mehr entwickeln.

Extremismus

Zum Kontext von Musik in sozialer Verantwortung gehört auch das entgegengesetzte Phänomen, dass Musik zur Verbreitung extremistischer Ideologien eingesetzt wird. Das betrifft heute vor allem rechtsradikale, aber auch linksradikale Positionen sowie Musik im Umfeld der deutschen Islamistenszene. Die Bundesrepublik hat 1954 die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften eingerichtet (heute für jugendgefährdende Medien), die auch Musik in eine Liste aufnimmt, die gefährdende Texte verbreitet. Deren Vorsitzende, Martina Hannak, erläuterte die Arbeit der Prüfstelle in Bezug auf „Musik als Vehikel extremistischer Ideologien“. Die Einrichtung nimmt Träger und Medien aller Art in den Blick und trägt sie auf einer Liste der jugendgefährdenden Medien ein, sofern diese geeignet sind, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren.

Musik mit linksextremistischen Ideologien ist häufig dem Rock oder Punkrock zuzuordnen. Aufrufe zur Gewalt gegen staatliche Einrichtungen, gegen die Polizei sind typisch. Empathieverluste bei Jugendlichen sind häufig Resultate des Genusses dieser Musik. Auch die Propagierung von Selbstjustiz ist typisch, zudem Verletzungen der Menschenwürde und die Diskriminierung von  Menschengruppen. Die Band Pestpocken brachte etwa den Titel „Virus BRD“ heraus, sie besingt darin SS und SA, die heute noch als Polizei wirken würden. Die Band „Feine Sahne Fischfilet“ hetzt im Titel „Staatsgewalt“ gegen die Polizei und besingt Gewaltfantasien. Doch der Titel wurde nicht als gefährdend eingestuft, weil er nicht als ein pauschaler Gewaltaufruf zu erkennen war.

Rechtsextreme Bands ordnen die Menschen- und Bürgerrechte dem völkischen Ideal unter. Im rechten Bereich gibt es deutlich mehr Verfahren. Auch ist die Vielfalt der Musik dort höher. Es gibt in den gemeldeten Musiktiteln eine Grundstimmung gegen Ausländer, Juden, Homosexuelle und andere. Oft herrscht eine depressiv wirkende Musikfarbe. Mitglieder des NS-Regimes werden oft verherrlicht. Die Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“ und ihr Titel „Willkommen liebe Mörder“ begrüßt Flüchtlinge als Mörder. Das Stück wurde als indizierungsrelevant eingestuft. Die Band „MaKss Damage“ und ihr Titel "Das Reich lebt"  verherrlicht den Nationalsozialismus und wurde indiziert.

Staunen-Begleitung: Kunstanspruch und Teilhabe

Ein Bläsertrio der Folkwang Universität trug eine Komposition von Salvatore Sciarrino derart eindrucksvoll vor, dass man eine Stecknadel zu Boden hätte fallen hören können. „Muro d'orizzonte“ hat eine stark akzentuierte, oft fast zerrissen wirkende Tonsprache, die einerseits unzugänglich wirkt und von der andererseits eine starke Faszination ausgeht. Dimitry Stavrianidi, Altflöte, Tamon Yashima, Englisch Horn, und Hyung Jung Kim, Bassklarinette, verstanden es, die herben Strukturen wie Klangarchitekturen im Saal zu errichten. Eine ideale Vorlage für den Komponisten und Musikwissenschaftler Gordon Kampe, dem musikalischen Werk an sich mehr Teilhabepotenzial zu attestieren als ihm seine Vermittler oft zutrauen. Den Impulsreferaten und der Diskussion stand die dialektische Frage „Stehen künstlerischer Anspruch und Teilhabe einander entgegen?“ vorne an. Nein, beantwortete Gordon Kampe sie zunächst und räumte ein, dass man das nur antworte, weil man ja die Laune nicht verderben wolle. Doch, ergänzte er, sie stehen einander oft im Wege.

Doch er sei gelassener geworden. Wenn die coolsten Formate des Musikvermittelns abgelaufen sein und wenn alle Vermittler ihre Arbeit gemacht haben, dann ist Beethovens Große Fuge immer noch groß – das habe er mittlerweile beruhigt gelernt: Auch wenn man sie vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr spielt, dann ist sie immer noch groß. Um Musikvermittlung geht es ihm bei seiner Philippika eigentlich gar nicht: Vieles in der Musikvermittlung geschieht auf tollem Niveau und er hat mit tollen Kollegen zusammen gearbeitet, doch er geht gegen die Tendenz an, den Hörern bloß keine Anstrengung zuzumuten. Schön glatt und konsumierbar müsse alles ein. So spiele man vielleicht nur noch eine kleine Auswahl an Sinfonien von Haydn. Man wird Haydn aber nicht gerecht. Schwer ist schön.

Die Musikvermittlerin Anne Kussmaul, die derzeit für die Elbphilharmonie in Hamburg arbeitet, wollte Gordon Kampe in ihrem Referat „Künstlerische Qualität und Teilhabe schließen sich nicht aus“ nicht grundsätzlich widersprechen. Generell will Musikvermittlung ist nicht vereinfachen. Hilmar Hoffmann brachte in den 1970er Jahren das Motto "Musik für alle" auf, das zwar immer wieder kritisiert wurde, aber das Kulturleben bis heute prägt. Teilhabe bedeutet, so Kussmaul, überhaupt die Möglichkeit zu haben, von einem Angebot zu erfahren und dann zu entscheiden, es anzunehmen oder nicht. Für den künstlerischen Anspruch sorgen die Kulturinstitutionen. Bei gelungener Teilnahme kommt nicht nur ein anderes Publikum, sondern es stehen auch andere Künstler, nämlich Teilnehmer aus dem Publikum, auf der Bühne. Wenn diese Teilhabenden aber zum ersten Mal auf der Bühne stehen und dabei nicht ihr Bestes zeigen können, ist das Ziel verfehlt worden. Die Authentizität des Auftritts ist sorgfältig zu bedenken, sonst wird aus Partizipation Exhibition. Kussmaul forderte, das Prinzip der aktiven Teilhabe über die Projektebene hinaus zu heben. Auch Führungspositionen in großen Kulturbetrieben müssen so besetzt werden, dass diese Formate entwickelt werden und ins Programm kommen.

Die Tagung „Musik in sozialer Verantwortung“ wurde inhaltlich vom gleichnamigen Arbeitskreis im Landesmusikrat unter Vorsitz von Thomas Greuel vorbereitet. Die organisatorische Vorbereitung lag in den Händen von Heike Stumpf, die Durchführung übernahmen Heike Stumpf und Robert v. Zahn. Kooperationspartner des Landesmusikrats war die Folkwang Universität der Künste, Förderer das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW.

Der ausführliche Tagungsbericht wird am 9. Oktober hier zum Download bereit gestellt.

rvz

Fotos: Women of Wuppertal am 3. Oktober 2018 im Orgelsaal der Folkwang Universität der Künste, Essen; Salvatore Sciarrino; Muro d'orizzonte, interpretiert von Dimitry Stavrianidi, Altflöte, Tamon Yashima, Englisch Horn, und Hyung Jung Kim, Bassklarinette; Natalia Ardila-Mantilla, Hayat Chaoui, Anja Backhaus und Dieter Döben; Anne Kussmaul, Anja Backhaus und Gordon Kampe; Fotos: LMR NRW.