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Eine Duisburger Tagung eröffnete Perspektiven: Kultur und Migration im Ruhrgebiet

Elf Referenten und eine Panel-Besetzung gingen am 18. und 19. November im Duisburger Konzertsaal der Folkwang Universität kulturellen Aspekten der Migration im Ruhrgebiet nach. INTEZ e.V., der Verein für die Integration hochqualifizierter Zuwanderer, und die Folkwang Universität richteten in Kooperation mit dem Landesmusikrat NRW und weiteren Partnern die Tagung aus, die von der Jungen Akademie an der BBAW/Leopoldina mitinitiiert und finanziert wurde. Die Referenten begriffen die aktuelle Einwanderung als Herausforderung und als Chance, denn die Arbeit mit den Geflüchteten kann die Gesellschaft auf Eigenschaften einer Offenen Gesellschaft hin entwickeln.

Nikolas Kretzschmar vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab zu Beginn eine Übersicht über die Rahmendaten der Einwanderung in den letzten beiden Jahren und fokussierte dabei auf die Möglichkeiten des Hochschulzugangs für Geflüchtete. 441.000 Erstanträge auf Asyl waren 2015 zu verzeichnen, 643.211 Erstanträge waren es 2016 allein schon bis November. 1,2 Millionen Menschen sind seit 2015 eingewandert. Viele, die schon 2015 kamen, konnten erst 2016 beim Bundesamt einen Asylantrag stellen. 81.000 der Erstantragsteller von 2016 kommen aus Syrien, 44.000 aus Afghanistan, 42.000 aus dem Irak. 190.000 Anträge wurden in NRW gestellt, in Bayern und in Baden Württemberg ist die Zahl jeweils nicht einmal halb so hoch. Die lange Migrationstradition der meisten Regionen in NRW bietet für Integration und Inklusion eine gute Grundlage.

Mittlerweile arbeiten fast 10.000 Personen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Verfahrensdauer für Neuanträge 2016 ist bei jüngeren Fällen auf zwei Monate gesunken, ältere Anträge brauchen hingegen bis zu zwei Jahre. Im September 2016 hingen 580.000 Verfahren an, im Oktober 2016 545.000. Zum ersten Mal seit Jahren sank von Monat auf Monat die Zahl der Verfahren. Integrationsmaßnahmen des Bundes sind vorwiegend Sprachförderprogramme. Diese müssen von den Flüchtlingen auch genutzt werden, das Grundprinzip lautet fördern und fordern.

Einige Kernaussagen der BAMF-Studie „Integration von Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen“ von 2016 beziehen sich auf die Wünsche der Geflüchteten: Der Anteil an Höherqualifizierten ist eher gering und die Allgemeinbildung sehr heterogen. Die Bildungsambitionen sind mit 46 % für einen allgemeinbildenden Abschluss hoch, 23 % wollen einen akademischen Abschluss. In ihren Wertvorstellungen weisen die Befragten sehr viel mehr Gemeinsamkeit mit der Aufnahmegesellschaft als mit der Bevölkerung in den Herkunftsländern auf.

Christian Esch, NRW Kultursekretariat, sieht die Stadtgesellschaften im Wandel. Er schilderte die Aktionen und Projekte, mit denen das Kultursekretariat und seine Mitgliedsstädte den Wandel mit gestalten wollen. Die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 setzte Interkultur als eines von vier Themenfeldern. Das Themenfeld erlebte nach 2010 aber keinen direkten Anschluss, anders als etwa das Thema Kreativwirtschaft. Die Bilanz ist heute ernüchternd. Seit 2016 gibt es immerhin ein Förderprogramm für interkulturelle Projekte seitens des Regionalverbandes Ruhr. Und die Zukunftsakademie in Bochum arbeitete ab 2013 sehr theoriebezogen, nun hat sie eine neue Leitung, die das vielleicht ändert.

Das Programm des NRW Kultursekretariats „Transfer International“ setzt sich mit Diversität auseinander. Das Programm „Baglama für alle“ sorgte 2015 für Baglama-Angebote an Musikschulen. Das Förderprogramm „Musikkulturen“ fördert interkulturelle Konzerte und Projekte in den Mitgliedsstädten. Wie aber können geflüchtete Musiker qualifiziert werden? Das Kultursekretariat will diese Frage mit den Städten vorantreiben und sucht dafür Partner. Seit 2015 gibt es zudem die Veranstaltungsfolge „Refugee Citizen“. Ein Tagungsauftakt fand in Dortmund statt, Folgeveranstaltungen zuletzt in Remscheid.  Die Kompetenzen, die Flüchtlinge mitbringen, sind für den Wandel des Landes nutzbar. Veränderungen in der Stadtgesellschaft können zum Beispiel durch den Einsatz der digitalen Medien geschehen. Flüchtlinge haben da besondere Erfahrungen, denn sie kommen oft aus Ländern, die wenig Infrastruktur haben, aber intensiv elektronische Medien nutzen.

Seit 2014/15 entwickelte die Musikschule Bochum, gefördert und begleitet vom Kultursekretariat, Pilotprojekte mit Geflüchteten, die jetzt auf die Mitgliedsstädte übertragen werden sollen. Manfred Grunenberg, Leiter der Musikschule Bochum, orientierte über diese Projekte, die der kulturellen Artikulation in Form von musikalischen Video-Portraits dienen, aber auch dem Spracherwerb durch partizipativ entwickelten Hörspielproduktionen und durch Singen in Erwachsenen-Sprachkursen.

Ein besonderes Projekt auf der Schnittstelle von Musik und Tanz stellte Daniela Schwarz von der Folkwang Universität der Künste vor: „Funky Wisdom – Sprache – Hip Hop – Rap“. Es dient dem Spracherwerb durch Hiphop und Rap; ein Projektteam um Bertram Müller, Takao Baba und Daniela Schwarz hat es entwickelt und durchgeführt. Dem Hiphop ist das Prinzip der Friendship eigen, das vom Projekt genutzt wird. Eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, eine rhythmisierte Gruppe ohne hierarchischen Strukturen sind das Ziel. Alle Jugendlichen konnten zu Beginn des Projekts kein Deutsch, kannten auch keinen Rap. Wer von den Tagungsbesuchern nicht glauben wollte, dass man trotzdem die Geflüchtete über diese Musikform zusammenhalten kann, dem bewies das Takao Baba mit einer anschaulichen Übung, die den Tagungsablauf sichtlich in Bewegung brachte.

Das Projekt wurde vom Landesmusikrat NRW und von der Stadt Düsseldorf gefördert, es zählt zu den 120 Musikprojekten mit Geflüchteten, die der Landesmusikrat seit 2015 gefördert hat bzw. noch fördert. Robert v. Zahn stellte beispielhaft Projekte vor und erläuterte Gelingensbedingungen auch anhand von Projekten, die nach Meinung der Durchführenden nicht zum selbstgesteckten Ziel gelangt waren. Diese Arbeit sollte praxisorientiert begleitet und reflektiert werden. Der Diskurs über Kulturarbeit mit Geflüchteten, der sich in einer Serie von Tagungen 2016 Bahn bricht, wird der Projektwirklichkeit hingegen oft nicht gerecht. Projektberichte aus Essen, Duisburg und Dortmund zeigen, was möglich ist, wie viel Flexibilität, Personaleinsatz und Arbeit an den Rahmenbedingungen erforderlich ist.

Andreas Jacob vertrat seine Frau Anna Katharina Jacob, Universität Duisburg-Essen, und informierte über Integration von Flüchtlingen an Hochschulen im Ruhrgebiet. Es gibt keine Zahlen der Geflüchteten unter den Studierenden. Als Dozent bemerkt man sie erst, wenn sie die Beratungsstellen aufsuchen. Die meisten sind bereits länger als ein Jahr im Land sind und haben entsprechende Sprachkenntnisse. Die große Zahl an Geflüchteten aus der aktuellen Einwanderungswelle wird erst noch an die Hochschulen kommen. Die Kunsthochschulen sind dabei gut vorbereitet, weil sie seit je einen hohen internationalen Anteil an Studierenden haben. Eine Besonderheit bietet die Ruhruniversität mit einer Schulung im psychologischen Umgang mit Traumatisierten.

Lydia Grün vom Netzwerk Junge Ohren berichtete von ihren Reisen zur interkulturellen Arbeit in Deutschland. Sie führte 15 Workshops in verschiedenen Regionen Deutschlands durch, die die Akteure der jeweiligen Region vernetzten. Im nächsten Jahr sollen es 16 Workshops werden. Der Fokus lag besonders auf den neuen Bundesländern. Die Themen der Veranstaltungen wählte das Netzwerk entlang der regionalen Interessen. Es recherchierte die Kulturakteure in der jeweiligen Region und baute so wertvolle Verteiler auf. Zu den Lehren aus den Workshops zählen die Erkenntnisse, dass die Balance zwischen ehrenamtlichem Engagement und professioneller Begleitung bei der Arbeit mit Geflüchteten besonders wichtig ist, dass der Wissenstransfer nicht lediglich elektronisch, sondern im direkten Austausch erfolgen muss, und dass Ressourcen eigentlich durchweg vorhanden sind, sie sollten nur anders genutzt werden.

»Good morning Deutschland« – das Flüchtlings-Radioprojekt des Donaueschinger Musikfestivals stellte Antonia Rohwetter aus Frankfurt vor. Radiosender in Donaueschingen, Stuttgart und Frankfurt sendeten von Flüchtlingsunterkünften aus in die ganze Welt, diejenigen in Stuttgart und Frankfurt werden immer noch betrieben. In jeder Stadt sendet ein Team einmal die Woche life auf Arabisch, Farsi, Deutsch und Englisch. Alle Studios sind von außen einsehbar, Transparenz ist wichtig, und Außenlautsprecher übertragen die Sendungen. Das Projekt entstand aus einem Kompositionsauftrag des Festivals Donaueschingen an den Komponisten Hannes Seidl heraus. Rohwetter legt Wert darauf, dass es im Prinzip ein künstlerisches Projekt ist, wenn es auch gravierende Auswirkungen auf den Gebieten von Sozialem, Integration und Medien hat. Sie selbst arbeitet als Assistentin Seidls mit.

Die vorgegebene Zentrierung bei der Projektleitung verursachte Rohwetter Unbehagen, erscheint ihr diese Rahmenbedingung doch als nicht angemessen gegenüber dem Anspruch, die beteiligten Redaktionsteams aus Geflüchteten das Projekt partizipativ und selbständig gestalten zu lassen. Aus ihrer Sicht müssen sich Projektdurchführende wie Hacker gegenüber dem Projektrahmen verhalten und den offenen Charakter gegen die Rahmenbedingungen durchsetzen. Kritik übte sie auch am Zuschnitt der Duisburger Tagung, auf dessen Referentenliste ihr Namen mit erkennbaren Migrationshintergrund fehlten und dessen Referatstitel bei ihrem Redaktionsteam keinerlei Wunsch hervorgerufen hätten, das Radioprojekt selbst in Duisburg vorzustellen.

Dieser Kritik konnten die Tagungsveranstalter ein Panel entgegenhalten, auf dem Mohammad Ajul, Ali Hamoutou und Omar Mohamad mit Tina Jermann, Nikolas Ketzschmar und Andreas Jacob über die Bedürfnisse und Erwartungen von Geflüchteten und Verhaltensmuster in der Aufnahmegesellschaft diskutierten. Sie hätten die Strapazen der Flucht nicht auf sich genommen, um hier mit anderen Geflohenen Arabisch zu sprechen, betonten sie, fanden aber die Zugänge zu Studium und Arbeitsmarkt optimierbar. Tina Jermann erinnerte an die Gründung des Vereins Exile e.V. vor 35 Jahren in einer Situation der Gesellschaft, deren exkludierenden Faktoren die Vereinsgründer in fünf Jahren überwinden wollten. Gemessen daran sei die Bilanz ernüchternd.

Manuela Vormberge, Folkwang UdK, präsentierte die Studie Transkulturalität und Fluchterfahrungen, eine Studie zur musikkulturellen Sozialisation geflüchteter syrischer Jugendlicher. 2014 und 2015 sind 325.000 geflüchtete Kinder in das deutsche Schulsystem integriert worden. Erkenntnisse über deren kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen liegen kaum vor. Deshalb wählte Vormberge eine Untersuchungsgruppe von syrischen Jugendlichen in Bezug auf Präferenzen und Kompetenzen in den Bereichen Musizieren, Singen und Tanzen aus. Und in Bezug auf ihr Interesse an traditioneller arabischer Musik. Eine Erhebung vom April und Mai 2016 führte zu 200 auswertbaren Fragebögen in arabischer Sprache. Ein Viertel der Befragten können ein Instrument spielen, Gitarre, Klavier, Trommel und Oud liegen vorn. 90 % der Befragten kennen die Oud, die meisten mögen traditionelle Oud-Musik. 72 % haben Lieblingsmusiker, davon nannten 52 % Künstler aus dem arabischen Raum, 32 % aus dem westlichen Raum, allen voran Shakira. Orte des Singens und Musizieren sind zuvorderst der Freundeskreis, dann die Familie und die Schule. Die Ergebnisse waren damit weit affiner gegenüber Musik und Tradition, als Vormberge zuvor vermutet hatte.

Matthias Knuth, Universität Duisburg-Essen, warf einen kritischen Blick auf die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Er gestand ein, dass es ihm nicht möglich war, in einer Tabelle alle relevanten Gesetze und Regelungen darzustellen, die den Rahmen des Arbeitsmarkts setzen. Eine Kollegin habe es einmal in einer sechsseitigen Tabelle einigermaßen vermocht, ihm gelänge das nicht. Man müsse sehen, dass Deutschland sich traditionell nicht als Einwanderungsland verstanden und die hier Arbeitenden durch Regelungen vor Konkurrenz aus Zuzug geschützt habe. Zudem möchte die Bundesregierung Anreize zum Zuzug vermeiden. Einwanderer aus sicheren Herkunftsstaaten sind deshalb von allem ausgeschlossen, wenn sie abgelehnt sind. Werden sie dann aber geduldet, dürfen sie am Arbeitsmarkt teilnehmen. Es gebe nun eine große Vielfalt an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Flüchtlinge. Das Handwerk spiele dabei eine große Rolle, weil es an Nachwuchsmangel leidet. Viele Initiativen sieht Knuth als Aktionismus an. Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen zu Niedriglöhnen etwa seien toxisch, weil sie letztlich Einheimischen nur demonstrieren, dass die Arbeitskraft von Flüchtlingen weniger wert ist.

Neue Maßnahmen, die sich an Menschen richten, die noch in den Einrichtungen sind, liefen erst im August 2016 an, als die Zahlen dort schon deutlich zurückgingen. Duale Maßnahmen, die Werksbesuch und Sprachkurs an einem Tag kombinieren, funktionieren in der Regel nicht. Ihre Konstruktion habe sich aus Institutionenpolitik ergeben, nicht aus einer Analyse des Bedarfs der Flüchtlinge oder der Praktikabilität der Maßnahmen. Knuth kritisierte insbesondere, dass vollzeitschulische Ausbildungen nicht im Blick sind, Dienstleistungsberufe nicht berücksichtigt seien und dass sich Arbeitsagenturen und Jobcenter in der Beratung für Fragen des Studiums nicht zuständig fühlten. Seine Empfehlungen erscheinen in den nächsten Wochen als Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen – man darf gespannt sein.

Thomas Krützberg, Kulturdezernent der Stadt Duisburg, schilderte die Einwanderungssituation in der Gastgeberstadt der Tagung. Duisburg ist seit Jahrzehnten mehr von Migration geprägt als andere Städte im Ruhrgebiet. Allein 8.000 rumänische und 8.000 bulgarische Staatsbürger kamen in den letzten Jahren nach Duisburg, die meisten aus prekären Verhältnissen, dann folgten die Zuweisungen von Geflüchteten aus Staaten des Nahen Ostens. Mittlerweile konnten alle Turnhallen, die als Notunterkünfte dienten, wieder dem Schulzweck zurückgegeben werden. Duisburgs Bevölkerung wächst durch Zuzug und wird jünger. Es geht hier nicht mehr um die Frage, wie die Migranten integriert werden, sondern wie sich eine Gesellschaft entwickelt, die Migration als Chance versteht.

In der Stadtverwaltung ist Integration eine Querschnittsaufgabe und sie arbeitet mit vielen Initiativen und Einrichtungen zusammen. Baglama-Unterrichtsangebote der Städtischen Musikschule 2005 waren Pilotprojekte für Deutschland. „Flüchtlinge willkommen“ ist ein wegweisendes Projekt der Lise Meitner Gesamtschule, das preisgekrönt wurde. So haben auch fast alle anderen städtischen Kulturinstitutionen Themen von Migration und Integration definiert. Das Nebeneinander und Gegeneinander der Einrichtungen und Aktivitäten müsse allerdings noch zu einem Miteinander entwickelt werden, so Krützberg, und damit fasste er eine Botschaft zusammen, die sich durch fast alle Referate der Tagung zog.

Robert v. Zahn

Fotos: Andreas Jacob, Mohammad Ajul, Ali Hamoutou, Tina Jermann, Omar Mohamad und Nikolas Ketzschmar am 18. November 2016 im Konzertsaal der Folkwang Universität Duisburg; Takao Baba führt in Hiphop-Projektarbeit ein; Fotos: LMR NRW.